Hernien
Klinische Einteilung, Pathogenese
Eine Hernie ist eine Ausstülpung des parietalen Peritoneums durch eine Bruchlücke, die angeboren oder erworben sein kann. Hernien können reponibel (spontane oder manuelle Reposition des Inhaltes des Bruchsackes) , irreponibel oder inkarzeriert (Einklemmung von Bruchsackinhalt im Bruchsack, Strangulation, Durchblutungsstörung) sein. Die klinisch wichtigste Hernienform ist die Leistenhernie, bei der eine indirekte (meist angeboren, entspringt lateral der epigastrische Gefäße) von einer direkten (meist erworben, entspringt medial der epigastrischen Gefäße) unterschieden wird. Bei der Skrotalhernie findet sich Bruchsackinhalt einer Leistenhernie im Skrotum. Schenkelhernien entspringen unterhalb des Leistenbandes im Areal des Durchtritts der A. und V. femoralis. Die Spieghelsche Hernie entsteht an der vorderen Bauchwand im Bereich der Linea semilunaris, und seltene Hernienformen betreffen die hintere Bauchwand oder die Beckenregion (Hernia ischiadica, Hernia obturatoria, Hernia perinealis, Hernia lumbalis). Narbenhernien entstehen aufgrund von vorausgegangenen Operationen meist durch Insuffizienz des Faszienverschlusses. Eine Treitz-Hernie tritt als innere Hernie an der Flexura duodenojejunalis auf. Die Hernia foraminis Winslowii entsteht unterhalb des Lig. hepatoduodenale im gleichnamigen Foramen W:
Hernienart | Bruchpforte | Häufigkeit, Pathogenese |
Laterale (indirekte) Leistenhernie | innere Bruchpforte: lateral der epigastrischen Gefäße | +++, angeboren (offener Proc. vaginalis) |
mediale (direkte) Leistenhernie | innere Bruchpforte: medial der epigastrischen Gefäße | +++, erworben (Verhebetrauma, Bauchtauma) |
Schenkelhernie | Lücke von A. + V. femoralis | ++, bei Frauen häufiger |
Nabelhernie | Bauchwandchwäche im Bereich des Nabels | +, angeboren |
Treitz Hernie | Flexura duodenojejunalis | selten |
Spieghel Hernie (um 1640) | Hernie im Bereich der Linea semilunaris, vordere Bauchwand | selten |
Narbenhernie | Je nach Lage der Laparotomiewunde | häufig |
Littre Hernie | Meckel Divertikel im Bruchsack | sehr selten |
Je nach Ausmaß der Hernie unterscheidet man weiterhin:
Art | Eigenschaften |
Komplette Hernie | Bruchsack besteht aus einer Ausstülpung des Peritoneums und enthält Netz oder Dünndarm |
Gleithernie | retroperitoneale Organe (z.B. Zökum) gleiten in die Bruchlücke, Bruchsack wird nicht ausschließlich von Peritoneum gebildet. |
Inkomplette Hernie (Richter Hernie) | Partielle Darmwandhernie (keine komplette Darmschlinge) |
Epidemiologie
Leistenhernien sind eine der häufigsten chirurgischen OP-Indikationen.
Inzidenz 200 / 100 000 / Jahr
Altersgipfel
Zwei Altergipfel: im Kindesalter und zwischen 40-50 Jahren Geschlecht kindliche Leistenhernie: fast ausschließlich bei Jungen. Erwachsene: Männer > Frauen 4-8:1 Schenkelhernien traten bei Frauen häufiger als bei Männern auf.
Geographie keine Angaben
Synonyme: Leistenbruch
Symptome: Schwellung in der Leistenregion, Schmerz im Bereich der betroffenen Leiste, in den Hoden einstrahlend
Spontanverlauf: In der Regel Zunahme der Bruchgröße, später: Inkarzerationsgefahr
Mögliche Komplikationen:Inkarzeration
Prästationäre Maßnahmen (Hausarzt): Basis-OP-Vorbereitung
Obligate Diagnostik:
- Anamnese
- Untersuchung des Abdomens
- Sonographie
- digital rektale Untersuchung
Fakultative Diagnostik:
- bei großen Bauchwandhernien:
- CT-Abdomen
- Sellinck-Passage
- Angiographie
Therapie [Chirurgie]
Beispiel: Leistenhernie
Indikation
bei Nachweis einer Leistenhernie besteht eine Operationsindikation, weil konservative Maßnahmen nicht weiterführen. Es handelt sich in der Regel um Wahleingriffe. Absolute Operationsindikationen sind inkarzerierte Hernien.
Aufklärung
Besonders wichtig, da es sich in der Regel um Wahleingriffe handelt. Folgende Punkte müssen erwähnt werden: Infektion. Netzinfektion. Wundheilungsstörung. Unschöne Narbe. Verletzung des Samenstranges (sehr selten) oder der Plexusgefässe. Wundserom (Notwendigkeit von Punktionen postoperativ). Rezidiv. Darmverletzung (sehr selten, etwas höheres Risiko bei TAPP). Hämatome. Hodenhämatom. Hodenatrophie (höher bei Rezidivleistenhernie). Chronisches Schmerzsyndrom (bis zu 10-30% !). Nervenverletzung. Absichtliche Nervenresektion zur Schmerzprophylaxe. Notwendigkeit einer Netzimplantation. Gefäßverletzung (Femoralgefässe).
Vorgang einer Leistenhernienoperation
Ambulante Erstvorstellung
- Befundüberprüfung
- Patientenaufklärung
- standardisiertes Formblatt zur Aufklärung an Patienten aushändigen
- Brief an Hausarzt mitgeben (Voruntersuchungen erbeten: EKG, Pulmo, Blutbild, Serumwerte, Gerinnung)
- Operationstermin und Wiedervorstellungstermin vereinbaren
Ambulante Wiedervorstellung
- Untersuchungsbefunde des Hausarztes checken
- Patienten aufklären, unterschreiben lassen
- Den Patienten ambulant dem Narkosearzt vorstellen (alle Patienten, auch Lokalanästhesie, müssen prämediziert werden)
Operationstag
- Patient kommt zur einbestellten Zeit 2 h vor OP auf die Station
- Operationsvorbereitung
- Durchführen der Operation
- Patient kommt auf Station zurück, darf unmittelbar postoperativ aufstehen
- Patient erhält Rezepte für Medikamente (Voltaren 75 mg 2 x 1, ggf. (Netz) postoperative Antibiotikaprophylaxe) und Kühlelement
- (ambulant) Patient erhält Begleitschreiben mit Hinweisen falls Komplikationen auftrete, eine Telefonnummer und einen Arztbrief für den Hausarzt
- Minimal Repair, Lichtenstein oder Shouldice (ambulant): Patient wird 3 h nach OP-Ende nach Hause entlassen (auch nach kurzer, spezieller Vollnarkose)
- TAPP: Pat verbleibt 1-2 Tage stationär
- Bei normalen Risiko: Keine Thromboseprophylaxe
Wiedervorstellungsprocedere
- 2-3 Tage postoperativ einmaliger Wiedervorstellungstermin in der Klinik mit Verbandswechsel
- restliche Verbandswechsel übernimmt Hausarzt
- Fäden ziehen nicht notwendig
- Arbeitsunfähigkeit je nach Patient 8-14 Tage
- 3-4 Wochen keinen Leistungssport
Übersicht der Operationsverfahren
Hernie | Standardverfahren bei Primärbefund | Standardverfahren bei Rezidiv |
Leistenhernie direkt und indirekt | Tailored open Approach: Straffe Transversalisfaszie, meist jüngerer Patient: Operation nach Shouldice (Dopplung der Transversalisfaszie und Anheften des m. obliquus internus an das Leistenband mit fortlaufenden Nähten und nicht-resorbierbarem, monofilem Nahtmaterial) oder sog. "Minimal Repair" (Bruchlückenverschluss durch Flap-Bildung der Transversalisfaszie) Schlaffe Transveralisfaszie, meist älterer Patient: Op. nach Lichtenstein (offene Implantation eines Kunstoffnetzes über einen Leistenschnitt) in Lokalanästhesie, ambulante OP möglich Minimal invasive Techniken TAPP (laparoskopische transabdominale Netzplastik) - in Vollnarkose, 1-2 Tage stationärer Aufenthalt TEP (total extraperitoneale Netzplastik) in Vollnarkose - 1-2 Tage stationärer Aufenthalt | offene Revisionsoperation mit Netzalloplastik (Lichtenstein) oder bei sehr guten Faszienverhältnissen Minimal Repair, ggf. Neurolyse oder Neurektomie oder minimalinvasive transabdominelle TAPP |
Skrotalhernie | Op nach Lichtenstein in Lokalanästhesie oder Vollnarkose | Op nach Lichtenstein in Lokalanästhesie oder Vollnarkose |
Schenkelhernie | Inguinaler Repair nach Lotheissen/Mc Vay | Inguinaler Repair nach Lotheissen/Mc Vay |
Narbenhernie | Herniotomie mit Fasziendopplung (wird nur noch selten durchgeführt) Hernienrepair durch Netzimplantation in Sublay - Technik (1. Standard) Hernienrepair durch laparoskopische Netzimplantation (IPOM, intraperitoneal online mesh -> 2. Standard) | IPOM |
Hiatushernie | kleine Hernien: keine Op-Indikation. Bei Symptomatik oder Sekundärkomplikation: Laparoskopischer Hernienrepair, Hiatoplastik und Fundophrenikopexie | "Offener" Hernienrepair, hintere Hiatoplastik, Fundophreniko- pexie |
Therapie [Konservativ]
Spritzenbehandlung, Bruchbänder etc:
Nicht empfehlenswert.
Rezidivprophylaxe: nicht erforderlich
Erreichbare Behandlungsergebnisse: Krankenhausaufenthalt: Ambulantes Operieren möglich. Rezidivraten nach Shouldice-Operation: 0.5-3 %. Mittlere Arbeitsunfähigkeit: ca. 8 Tage (bei Selbständigen; bei Angestellten erheblich länger).